Soziologische Systemtheorie – was geht?

Das Studium liegt schon eine Weile zurück, die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Soziologie gehört nicht mehr zum Alltag. Doch immer wieder kehrt es zurück: mein Interesse insbesondere an der soziologischen Systemtheorie. Wie hat sie sich weiterentwickelt, welche Schüler Luhmanns haben die Theorie nach dessen Tod weitergebracht?

Die alten Fronten existieren immer noch, das Für und Wider wird weiter diskutiert. Und die Gegner der „antihumanen“ Gesellschaftstheorie schlagen sich inzwischen recht gut, wie ein aktueller Disput bei Zeit Online belegt.

Aufschluss über den Zustand der soziologischen Systemtheorie, anschließend an die Überlegungen Niklas Luhmanns, gibt ein schönes langes Interview, das der Techniksoziologe Martin Rost (Wikipedia, Website, Twitter) im Jahr 2009 mit Prof. Peter Fuchs (Wikipedia, Website) führte. Professor Fuchs plaudert aus dem Nähkästchen: Wie war das damals mit Luhmann? Was macht eine(n) gestande(n) Systemtheoretiker(in) aus? Welche Erker lassen sich an das von Luhmann aufgebaute Theoriegebäude zimmern? (Oder muss das gar in Teilen abgerissen und neu erbaut werden?) Sehr interessant ist das alles.

Verschlagworten lässt sich das Interview aber auch mit Begriffen wie Eitelkeit oder Selbstverliebtheit. Sieht man’s positiver (oder distanzierter), dann passt auch der Begriff Irritation ganz gut zur Beschreibung der Wirkung, die so manche Aussage des Professors auf den Zuschauer hat.

Prof. Peter Fuchs im Interview mit Martin Rost

 

Menschelndes im Web: David Lynchs Interview Project

Für den Soziologen Niklas Luhmann wie den Regisseur David Lynch gilt, dass ihre Werke den Rezipienten irritieren und bewußtseinserweiternd wirken. Zumindest mir geht das so. Ansonsten fallen mir auf die Schnelle keine nennenswerten Gemeinsamkeiten ein. Eher schon Unterschiede: Während, wie schon angesprochen, Luhmann den Menschen in seiner Theorie zum „Nebendarsteller“ macht, gewährt Lynch „Hinz und Kunz“ derzeit den großen Auftritt.

Und zwar im Rahmen des im Internet zu findenden Interview Projects. Wie Meister Lynch selbst erläutert, handelt es sich bei dem Projekt um einen 70 Tage währenden und 20.000 Meilen umfassenden „Road Trip“ durch die USA, bei dem zufällig in Bars oder am Straßenrand angetroffene Menschen die Gelegenheit erhalten, ihre „Story“ in die bereitgehaltene Kamera zu erzählen.

The Interview Project

Die Idee ist zwar nicht neu, allerdings geht es beim Interview Project nicht kumpelhaft zu. Anders als etwa beim bayerischen Pendant „Gerst unterwegs“ bleibt eine Distanz zum Objekt gewahrt. So muss auch nicht ständig zum Taschentuch gegriffen werden, denn statt Rührung erzeugen die virtuellen Kurzbegegnungen mitunter eher Befremden oder gar einen leichten Grusel.

Beispiel: Episode 78. Hier beklagt die verhärmte und fast zahnlose Theresa den zunehmenden Sittenverfall und bedauert die unter diesen Zuständen aufwachsende Jugend. Aufgezeichnet wurde das Interview im Fünftausend-Seelen-Kaff Porter im mittleren Westen der USA, vor Theresas verfallenem Häuschen. Wen wundert es da noch, dass die 73-jährige, geschiedene Frau gerne patriotische Gedichte verfasst und Gott als einzigen Halt („God is My Co-Pilot“) in ihrem Leben bezeichnet?

Theresa, 73, Porter / Indiana

Unmittelbar ist solch eine „Menschen-Show“ aber selbstverständlich auch bei Lynch nicht. Die den Interview-Schnippseln beigefügte Hintergrundmusik oder die verfremdende Bildtechnik erzeugt manchmal gar die aus Lynchs Filmen bekannte, eigentümliche, nicht selten beängstigende Stimmung. Das Ganze lässt sich also als ein kurzweiliges, gut gemachtes Nebenprojekt des exzentrischen Regisseurs bezeichnen, das ein wenig an „The Straight Story“ erinnert.

Interview Project-Route

Lynch hat sich mit dem Interview Project übrigens zum Ziel gesetzt, dem Zuschauer die Chance zu geben, Zufallsbekanntschaften mit ihm wildfremden Menschen zu machen. „It’s something that’s human and you can’t stay away from it“, ist er sich dabei sicher und wünscht: „Enjoy the Interview!“.

David Lynch

„Die einen mögen halt warme Affenhirne …“

Preisfrage, welcher Denkrichtung ist ein Sozialwissenschaftler zuzuordnen, der für seine Überlegungen zum Menschen folgenden Ausgangspunkt wählt: „Wie konstruieren soziale Systeme dasjenige, was sie als relevante Umwelt brauchen?“. Richtig liegt, wer jetzt an die soziologische Systemtheorie denkt, denn dieser gilt unsereins eben in erster Linie als „relevante Umwelt“ der „sozialen Systeme“ .

Der „Schachzug“, von der üblichen anthropozentrischen Sichtweise abzuweichen und soziale Systeme ins Rampenlicht zu stellen, ist raffiniert, weil sich die Gesellschaft so ganz anders beobachten lässt. Gut erklärbar wird dadurch etwa die Eigenlogik und -dynamik der Wirtschaft, die inzwischen von den menschlichen Belangen weitgehend enthoben scheint (Link-Tipp hierzu: Jörg Räwel hat die Finanzkrise systemtheoretisch aufgearbeitet).

Dass die Systemtheorie den Faktor Mensch etwas zur Seite stellt, um einen unverstellteren Blick auf die sozialen Zusammenhänge zu bekommen, ist umstritten. Der Vorwurf, die Theorie sei a-human, wird immer wieder laut. Ein Mißverständnis aus Unkenntnis (hier ein Beispiel) und zudem Beleg dafür, wie wichtig sich so mancher Mensch nimmt. (Paradoxerweise scheinen hier insbesondere jene auf die Bedeutung des Menschen zu pochen, die sonst gerne dessen destruktives Potential für die Umwelt beklagen.)

Zurück zum oben zitierten Ausgangspunkt. Er geht auf den Emeritus Professor Peter Fuchs zurück. Der Luhmann-Schüler, über den DIE ZEIT geschrieben haben soll, er sei der „originellste und kühnste Weiterdenker der Systemtheorie Luhmanns“, hat sich mit dem Thema Mensch in seinem letzten Buch „Das Maß aller Dinge“ eingehend befasst. Im nachfolgenden Video äußert er seine Ansicht, dass vieles, was wir als menschliche Eigenheiten erachten, eigentlich von der sozialen Umwelt des Menschen herrührt. Das gilt auch für Gefühle oder den Geschmack. Im Video macht Fuchs die soziale Konditioniertheit des Menschen so anschaulich: „Die einen mögen halt warme Affenhirne. Die mögen das. Und wir mögen es vielleicht nicht.“

Das Anthropologie-Video findet sich neben einigen anderen im neuen Contextblog, das sich Aktuelles aus Wissenschaft, Philosophie und Kultur auf die Fahne geschrieben hat. In den weiteren Clips (aufgezeichnet im April 2009 in Luzern) äußert sich Fuchs gegenüber Studenten zu „Integration“, „Behinderung“, „Sinn und Sinnlosigkeit“, „Wirtschaftskrise“ sowie „Niklas Luhmann und die Theorie“.

[xr_video id=“f1ea809973b64f99a1ee1201a199e183″ size=“sm“]

Über die Rechtfertigung von Armut …

… hierzulande hat der Politikwissenschaftler Prof. Christoph Butterwegge einen äußerst lesenswerten Artikel verfasst, der sich in der Tageszeitung „Junge Welt“ veröffentlicht findet. Galt bislang (geerbte) materielle Not als Hindernis für eine gute Bildung und eine lukrative Arbeitsstelle, so drehen die Fürsprecher der „herrschenden Leistungsideologie“ den Spieß einfach um. Materielle Not ist ihrer Ansicht nach gar nicht das Problem, vielmehr liegt der Bildungsmangel und dessen böse Folgen schlichtweg an der Faulheit und dem Desinteresse der so genannten Unterschicht: „Sie könnten ja, aber sie wollen einfach nicht.“

Die undisziplinierte Unterschicht ist an ihrem Los letztlich selber schuld – das wäre ein Freispruch erster Klasse für die Träger und Profiteure der bestehenden Verhältnisse. Armut wird damit legitim (sie müssen ja nur wollen, wie die anderen, die genug Zaster haben). Umverteilung wird damit zum Nonsens (die Probleme bleiben bestehen, wenn der Reiche dem Armen gibt). Und: Die Behauptung, dass Bildung der Schlüssel für materiellen Erfolg und Zufriedenheit ist, erklärt auch, warum gegenwärtig in Politik und Wirtschaft ständig eine „Bildungsoffensive“ gefordert bzw. ausgerufen wird. Mehr Bildung, das ist die Lösung für alles Schlechte in der Gesellschaft.

Ein Trugschluss, glaubt man Professor Butterwegge. Mehr noch: Der Bildungs-Hype ist eine Verschleierungstaktik, die den Status Quo zementieren soll, in dem von den eigentlichen Ursachen zunehmender Armut abgelenkt wird. Wer’s glaubt, wird kein Grund mehr sehen, für die Umverteilung der materiellen Ressourcen einzutreten.  „Beruhigungspille Bildung“ also.

Drei Generationen Systemtheorie

Eine recht hilfreiche Übersicht: Die nachfolgende Tabelle komprimiert die Geschichte der Systemtheorie in drei Generationen. Mit einigen Erläuterungen versehen, findet sie sich im interessanten Blog „Concept Walk“ des japanischen Studenten Takashi Iba.

Drei Genereationen Systemtheorie

Schelsky zwischen Gehlen und Habermas

Das freut mich: Einen sehr interessanten Artikel, der sich insbesondere mit den heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Soziologen Helmut Schelsky und Arnold Gehlen befasst, gibt es in der Onlineausgabe der Zeitung Die Welt zu lesen. „Auf den Gipfeln, hinter den Kulissen“, ist der Text überschrieben. Verfasst wurde er von Wolf Lepenies in Gedenken an den vor 25 Jahren verstorbenen Helmut Schelsky.

Wie Lepenies schreibt, soll Schelsky übrigens Habermas einst dazu eingeladen haben, „Mitglied in einer ‚Kleinstgesellschaft für Soziologie auf Zeit‘ zu werden, in der sich erhöhte Chancen der Kooperation und Kommunikation böten.“ Klare Sache also, von wem Niklas Luhmann seinen bissigen Witz herhat. 😉

Niklas Luhmanns postume Liebesübungen

Am 6. November jährt sich der Todestag Niklas Luhmanns zum zehnten Mal. Wie in solchen Fällen üblich, wird die Aufmerksamkeit, die ein solches trauriges Jubiläum mit sich bringt, dazu genutzt, noch Unveröffentlichtes gewinnbringend unter das Lesevolk zu bringen. Seit einigen Wochen ist nun „Liebe. Eine Übung“ auf dem Markt. Ein kurzes Bändchen, erschienen im Suhrkamp-Verlag, das seinen Ursprung in Aufzeichnungen für eine frühe Lehrveranstaltung Luhmanns Ende der 1960er Jahre haben soll.

Vor einiger Zeit hatte ich „Liebe. Eine Übung“ in einer Frankfurter Bahnhofsbuchhandlung bereits in der Hand gehabt, es dann aber doch wieder ins Regal zurückgestellt – ein Fehler, glaubt man der Rezension von Jürgen Kaube in der FAZ. Erstaunlich, was Kaube aus dem Büchlein alles herausliest.

Auch die Finanzkrise hat einige Autoren an Luhmann und seine Variante der Systemtheorie erinnert. So etwa Jörg Rawel, der auf Telepolis die ökonomischen Verwerfungen mit Luhmann zu deuten versucht: „Finanzkrise: Schikanen auf dem Weg zur Weltgesellschaft“. Interessant ist auch Christiane Schulzki-Haddoutis Rekurs auf Luhmanns Definition von Vertrauen („Über Vertrauen – Luhmann revisited“).

„Die Risikoneigung muss in diesen Systemen selbst unter Kontrolle gehalten werden“, schrieb Luhmann einstmals, die ausdifferenzierte Gesellschaft beobachtend. „Mehr Luhmann lesen!“, möchte man heutigen Politikern gerne zurufen.

Video von Ernst von Glasersfeld: Vortrag an der Wiener Uni

Mag sein, dass in Österreich nur selten begnadete Fußballer geboren werden – das Auftreten bei der derzeit laufenden Fußball-EM belegte den Mangel erneut. Wundersam anders verhält es sich aber, wenn es um Denker von erstem Rang und großer Güte geht. Felix Austria? Männer wie Heinz von Foerster oder Ernst von Glasersfeld – immerhin die Begründer des Radikalen Konstruktivismus‘ – werden in Österreich weit weniger geschätzt als die mediokeren Balltreter des kleinen Landes.

Was nicht heißen soll, dass man in Österreich gar nichts auf seine Philosophen hält. So war etwa ein Vortrag, den Ernst von Glasersfeld vor kurzem an der Wiener Universität bestritt, gut besucht. Thema des Vortrags: „Gedanken über Raum und Zeit – unverbindliche Erinnerungen“.

Der nachstehende, zehn-minütige Video-Clip zeigt einen Ausschnitt des Vortrags – erstaunlich, wie fit und souverän sich der 91-jährige Wissenschaftler auch heute noch dem Auditorium präsentiert.

Via: Carl-auer.de/blog

Was ist (noch) Feminismus?

Alice Schwarzer ist out. Andere Namen beherrschen heute die öffentliche Diskussion über Emanzipation und Feminismus. Derzeit beschäftigt etwa Charlotte Roche mit ihrem Buch „Feuchtgebiete“ das Feuilleton. Und auch fern der intellektuellen Debatte, in den Niederungen der Amazon-Kundenrezensionen, wird heiß diskutiert: „Ist das Feminismus der neuen Art oder einfach nur eklig?“
Noch umstrittener ist die Rolle der „Porno-Rapperin“ (TAZ) Lady Bitch Ray (bürgerlich: Reyhan Åžahin) und ihrem „Vagina-Style“. Kämpft Lady Bitch Ray nun für die Emanzipation der (türkischen) Frau oder vermarktet sie nur geschickt ihre Musik („ich will euer Cash“)? Auch hier hat der gesunde Menschenverstand sein Urteil bereits gefällt: die LeserInnenkommentare zu einem Interview der Rapperin in der TAZ sprechen eine deutliche Sprache.

Geben die aufgeregten Reaktionen den beiden Ladys Recht? Anders als Alice Schwarzer gelingt es Lady Bitch Ray und Charlotte Roche offenbar noch, die gegenwärtige deutsche Gesellschaft zu irritieren. Und ist Irritation nicht eine Bedingung für Veränderung? Was liegt hier vor: Emanzipation, Egozentrik oder beides zugleich?

Wer sich sein Urteil noch nicht gebildet hat (oder sich gerne irritieren lassen möchte), der kann online einen aktuellen TAZ-Kommentar zu Charlotte Roche nachlesen. Lady Bitch Ray hat kürzlich dem Deutschlandradio Kultur ein Interview gegeben. Einen aufschlussreichen Abschnitt des Gesprächs kann man hier nachhören.
Alles Blödsinn, Alice Schwarzer ist gar nicht out? Schon möglich: Ein Beitrag mit dem Tenor: „Alice gegen die Alphamädchen“, findet sich auf der Website des Hessischen Rundfunks.

Genderblog.de: Feminismus in der Blogosphäre

Was ist bloß „Gender“? Das Seminar: „Die soziale Konstruktion von Geschlecht“, brachte es mir am Ende des Soziologiestudiums bei. Zu unterscheiden ist demnach das biologische Geschlecht (sex) von dem im gesellschaftlichen Diskurs bestimmten, kontingenten sozialen Geschlecht (gender).

Was eine Frau bzw. ein Mann „ist“, welche Rolle sie zu spielen haben, wird oft mit dem jeweiligen biologischen Geschlecht begründet. Eigentlich handelt es sich bei der Rollenverteilung aber nur um gesellschaftliche Festlegungen – so die Argumentation von Soziologen und des Feminismus.
Um die Sache noch komplizierter zu machen: Die modernen Gender-Theorien haben aufgedeckt, dass auch das „eindeutige“ biologische Geschlecht sozial aufgeladen ist. Ist also auch die Zweiteilung des biologischen Geschlechts willkürlich? Frühe Feministinnen wie Alice Schwarzer bestreiten dies.

Eigentlich komisch, dass es im Web so wenig gute Informationen zum heiß umstrittenen Thema gibt. Zufällig bin ich nun auf Genderblog.de gestoßen. Die Website ist nicht nur optisch ansprechend gestaltet, sondern auch inhaltlich das Beste, was ich aus dem Bereich bislang kenne. Beispiel gefällig: Bericht zur „Frauenveranstaltung“ auf der Blogger-Konferenz re:publica.

Update: Die Frauenveranstaltung auf der re:publica wurde in der Blogosphäre durchaus kritisch kommentiert. Hier meldet sich eine Bloggerin (Franziska Bluhm) zu Wort: „Und immer dieser Weiberscheiss“.